Privatisierter Lebensschutz – Warum die Menschenwürde nicht erst mit der Geburt beginnen darf
Am 10. Juli 2025 wurde die Wahl von Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin überraschend vertagt. Anlass war nicht allein ihre umstrittene Haltung zur Menschenwürde. Hinzu kam ein Plagiatsvorwurf: In ihrer Dissertation von 1997 sollen sich auffällige Textparallelen finden – ein Vorwurf, der nun geprüft wird.
Diese Entwicklung macht sichtbar, worum es in Wahrheit geht: Nicht nur um juristische Präzision. Sondern um Vertrauen in die ethische und menschliche Integrität derer, die über Grundrechte entscheiden sollen.
Und genau darum lohnt es, die inhaltliche Debatte weiterzuführen: Darf ein Verfassungsgericht Menschenwürde so definieren, dass sie erst mit der Geburt beginnt?
Der Embryo – ein resonanzfähiges, mitgestaltendes Wesen
Moderne Embryologie und Traumaforschung sind eindeutig: Der Embryo ist von Anfang an kein bloßer Zellhaufen. Er nimmt wahr, reagiert, verarbeitet Sinneseindrücke und emotionale Zustände der Mutter. Pränatale Erfahrungen prägen das Nervensystem, binden Bindungs- und Affektmuster ein. Trauma beginnt nicht erst nach der Geburt – es beginnt davor.
Die These, Menschenwürde beginne juristisch erst mit der Geburt, ist damit wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Sie blendet das real existierende, schutzbedürftige Menschsein aus.
Menschenwürde als verschiebbare Größe?
Frau Brosius-Gersdorf argumentiert: Menschenwürde vor der Geburt sei ein „biologistischer Fehlschluss“. Das ist eine normative Setzung – aber sie widerspricht sowohl der Realität des menschlichen Werdens als auch der ethischen Grundidee unseres Grundgesetzes.
Wenn Wahrnehmung, Beziehung und Schmerzverarbeitung vor der Geburt beginnen, warum sollte der Staat seinen Schutz erst danach einsetzen?
Von der NS-Euthanasie zur Privatisierung
In der NS-Zeit entschieden zwölf Ärzte zentral über Leben und Tod. Heute ist diese Entscheidung privatisiert: Die Schwangere allein trägt sie, oft unter erheblichem Druck.
Doch das Grundproblem bleibt: Der Staat zieht sich aus der Verantwortung zurück. Das Ungeborene bleibt rechtlich ungeschützt, obwohl es in einem Zustand maximaler Abhängigkeit existiert.
Akademische Integrität und ethische Verantwortung
Dass nun zusätzlich ein Plagiatsverdacht gegen Brosius-Gersdorf besteht, verstärkt das Bild: Wer ethisch und juristisch an der Grenze argumentiert, muss auch akademisch ohne Zweifel bleiben.
Schon ihr Doktorvater Horst Dreier scheiterte 2008 an seiner Nominierung, weil seine Haltung zur Menschenwürde als zu relativ empfunden wurde. Heute stellt sich diese Frage erneut.
Wollen wir ein Verfassungsgericht, das Menschenwürde so definiert, dass das verletzlichste Leben ausgeschlossen wird?
Aufgabe: Recht und Leben zusammenführen
Unsere Zeit verlangt nach einer Ethik, die den Menschen als Beziehungswesen ernst nimmt – von Anfang an. Die Geburt ist ein Übergang, kein Anfang.
Die Wahl von Verfassungsrichtern entscheidet nicht nur über juristische Kompetenz, sondern über unser gemeinsames Menschenbild.
Die Lücke zwischen Gesetz und Leben zu schließen, bleibt Aufgabe – gerade jetzt.